Autor: Andreas Holtschulte

Mannheim.Ich war in den vergangenen Monaten sicher nicht der Einzige, der sich immer wieder einmal gefragt hat, warum wir in Deutschland im Bereich der Digitalisierung und digitalen Transformation im internationalen Vergleich so hinterherhinken. Liegt es nur an dem katastrophalen Mobilfunknetz-Ausbau? Oder an dem krampfhaften Festhalten an traditionellen Industriezweigen? Oder vielleicht sogar an dem Unwillen und der Angst in Deutschland, neue Wege zu gehen und Dinge einfach einmal auszuprobieren? War die letzte Innovation, die aus Deutschland kam das Automobil oder kommt da jetzt noch was?

Beim Besuch von zwei Theaterstücken zum Thema künstliche Intelligenz im Ruhrgebiet und den anschließenden Künstlergesprächen ist es mir dann wie Schuppen von den Augen gefallen: Es liegt wohl an der sehr freien Definition der entscheidenden Begriffe. Keine einheitliche Definition, kein Plan zur Umsetzung, keine Chance, Innovationen zu schaffen. Wo also ist der Unterschied zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation?

Digitalisierung ist, wenn wir bereits bei der Kaufentscheidung im Onlineshop wissen, wann unser Paket ankommt: Betrachten wir den Prozess, nachdem wir im Onlineshop auf „Kaufen“ geklickt haben. Es wird digital ein Auftrag, eine Lieferung und die Kommissionier-Liste im Verteilzentrum des Händlers erzeugt. Der Lagerarbeiter bekommt die bestellten Artikel mit dem entsprechenden Lagerplatz auf seinem Scanner angezeigt und beginnt, die Ware im Lager einzusammeln.

Nächste Station: Versand. Der Lagerarbeiter bringt die Waren in den Versandbereich, wo sie in Pakete gepackt und die Versandpapiere digital erzeugt werden. Die Software verschickt eine digitale Nachricht an den Logistik-Dienstleister wie DHL, DPD oder Hermes. Durch Scans der Barcodes werden die Arbeitsschritte bestätigt, und für uns als Endkunden ist zu jedem Zeitpunkt klar, wo sich unser Päckchen befindet und wann es ankommen wird.

Dieser Prozess wurde vor einigen Jahren zumindest teilweise noch mit Zetteln und Papierlisten durchgeführt. Das Beispiel zeigt, wie digitale Informationen einen physischen Prozess synchron abbilden. Die Informationen werden zwischen unterschiedlichen Softwarelösungen und Geschäftspartnern ausgetauscht, verarbeitet und angereichert. Das ist Digitalisierung.

Kann man Digitalisierung noch steigern? Ja, indem Unternehmen mithilfe neuer technologischer Möglichkeiten ihr ureigenes Geschäftsmodell angreifen. Das klingt zunächst absurd. Doch es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass mächtige und finanzstarke Konzerne innerhalb weniger Wochen zerbrochen sind, da die Topmanager die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Das prominenteste Beispiel dafür ist Kodak.

Obwohl die Entwicklung zur Digitalfotografie nicht mehr aufzuhalten war, hatte der Farbfilm-Anbieter bis zuletzt an seinem Kernprodukt festgehalten. Paradoxerweise hatte Kodak bereits die ersten Pläne für eine Digitalkamera entwickelt. Und doch entschied das Management, weiterhin nur Filme zu verkaufen, da die Verdienstmöglichkeiten beim traditionellen Produkt einfach so verführerisch waren.

Die Kodak-Chefs befürchteten, sich mit der digitalen Fotografie das einträgliche Geschäft kaputtzumachen. Also wurden die Pläne für die Digitalkamera an einen Wettbewerber verkauft. Der Rest ist Geschichte. Kodak ist ein gutes Beispiel dafür, was digitale Transformation bedeutet. Es ist die Umwälzung und Umwandlung des bestehenden Geschäftsmodells durch die Nutzung digitaler Technologien, die den bisherigen Unternehmenszweck völlig über den Haufen werfen.

Andreas Holtschulte arbeitete beim Walldorfer Softwarekonzern SAP und ist mittlerweile freier Berater. In seiner Kolumne für diese Zeitung schreibt er regelmäßig über Digitalisierung sowie ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Verbraucher