Autor: Andreas Holtschulte

Mannheim.„Oh nein“, schreie ich, während ich mit beiden Füßen und aller Kraft in die Bremspedale trete. Vergeblich, denn mein VW-Golf prallt mit quietschenden Reifen und einer Restgeschwindigkeit von 36 Stundenkilometern in den am Fahrbahnrand parkenden Lkw-Auflieger – es war nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem ich auf meine intelligente Armbanduhr geschaut habe.

Nachdem ich meine Sinne wieder einigermaßen zusammen habe, merke ich, dass ich bis auf eine Platzwunde an meiner Stirn wohl keine weiteren Verletzungen habe. Glücklicherweise habe ich niemanden außer mir verletzt. Als ich wieder auf mein Smartphone schaue, leuchtet in roten Buchstaben der Hinweis auf: „Automatischer Notruf wird ausgeführt.“

Das hat das Gerät nach der Erschütterung selbstständig entschieden. Durch den Lautsprecher erklingt eine Roboter-Stimme: „Notruf der Feuerwehr, Sie hatten einen Verkehrsunfall. Wie uns Ihre Smartwatch mitteilt, scheinen Ihre Vitaldaten stabil zu sein. Wir schicken Ihnen einen Notarzt und die Polizei. Sind außer Ihnen weitere Personen verletzt?“

Die Polizei weiß schon Bescheid

Die junge Polizistin, die den Unfall wenig später aufnimmt, sagt lächelnd: „Da waren wir wohl etwas schnell unterwegs.“ Die Notfall-App auf dem Smartphone übermittelt wichtige Informationen an die Polizei – wie meine Geschwindigkeit. So wissen die Beamten bereits, dass ich durch meine Smartwatch abgelenkt und deshalb 22 Stundenkilometer zu schnell war. Die Unfallursache wäre damit klar: grobe Fahrlässigkeit. Darauf folgen ein Bußgeldverfahren sowie ein dreimonatiges Fahrverbot.

Am nächsten Tag telefoniere ich mit dem Kfz-Versicherer. Der Mitarbeiter erklärt mir, dass die Gesellschaft den Schaden zwar zunächst begleichen werde, sich das Geld aber von mir zurückholt. Die Versicherung wüsste bereits jedes Detail des Unfallhergangs inklusive der Geschwindigkeitsübertretung und der Ablenkung durch meine intelligente Armbanduhr. „Grobe Fahrlässigkeit ist nicht versichert“, sagt der Sachbearbeiter.

Tatsächlich habe ich vor drei Monaten bei meiner Versicherung einen sogenannten Kfz-Telematik-Tarif abgeschlossen, um 15 Prozent Versicherungskosten zu sparen. Der Deal: Privatsphäre und Daten gegen Geld. Ich hatte mich dazu bereiterklärt, eine sogenannte Telematik-Box in mein Auto einzubauen, die Daten wie Geschwindigkeit oder Bremsverhalten sowie Routen, Uhrzeiten und Dauer der Fahrten an den Versicherer übermittelt. Fahre ich vorschriftsmäßig, könnte ich bis zu 230 Euro im Jahr an Versicherungsprämie einsparen.

Den Schaden habe ich derweil bezahlt und meinen Führerschein für drei Monate abgegeben – genau wie die Telematik-Box. Die Einstellungen der Datenübermittlung in der Notfall-App habe ich eingeschränkt. Und die Smartwatch bleibt jetzt im Auto abgeschaltet.

Die ganze Geschichte hat sich so nie ereignet – manches davon macht Digitalisierung heute schon möglich, anderes nicht. Tatsächlich lassen sich einige Versicherungskunden mit Rabatten locken. Der Deal: Privatsphäre gegen Geld. Das Problem daran ist, dass sich die Versicherer heute noch mit den Telematiksystemen und günstigen Konditionen die Daten ihrer Kunden erkaufen.

Doch es scheit nur eine Frage der Zeit zu sein, bis solche Fahrtenschreiber seitens der Versicherungsunternehmen verpflichtend werden und Autofahrer, die ihre Privatsphäre nicht an der Fahrertür abgeben wollen mit deutlich unattraktiveren Tarifen gezwungen werden, solch eine Box einzubauen. Hier verhält es sich wie mit allen Diensten und Services, die wir im Internet schon heute kostenlos oder stark subventioniert nutzen: Wenn man den Anbietern im Gegenzug dafür personenbezogene Informationen überlässt, ist man nicht der Kunde, sondern das Produkt.

Andreas Holtschulte arbeitete beim Walldorfer Softwarekonzern SAP und ist mittlerweile freier Berater. In seiner Kolumne für diese Zeitung schreibt er regelmäßig über Digitalisierung sowie ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Verbraucher.